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Siegen, vielSeitig, eine Erfahrung

 

 

 

 

Siegen, vielSeitig,

eine Erfahrung

 

 

Man zählt mich in Luxemburg zur Gattung der literarischen Quereinsteiger, eine Art zone grise zwischen gestern und morgen, ohne ein ordentliches Heute. 

Immerhin stelle ich eine Spezies der Durchzügler dar, ein Nomade zwischen Luxemburgisch und Deutsch, zwischen Bild und Wort. Immerzu bewege ich mich, wie man bei uns so schön sagt, tëscht Dir an Angel, zwielef Auer a Mëtteg, sinn net Jong an net Meedchen. 

Genau hier wollte ich anknüpfen an ein literarisches Projekt mit dem Namen vielSeitig, das europäische Literaturfestival in Siegen, an dem ich die Ehre hatte teilzunehmen. 

 

Die Vorgeschichte 

 

sei kurz erwähnt: 2018 wurde ich auf der Frankfurter Buchmesse von Dr. Natasza Stelmaszyk auf meine Kurzgeschichte european clouds angesprochen. Ich hatte sie just im Pavilion vorgetragen. Frage: Hätte ich Lust am Festival vielSeitig in Siegen 2020 teilzunehmen? Ich hatte. Ob ein Buch von mir in Arbeit wäre? Es war. Und ob das Buch dann vorgestellt werden könnte? Es könnte.

Soweit zu 2018. Es folgte in Erwartung des November 2020 die Stille ab März, das voraussehbare no go für das Festival kurz vor seinem Start. Und das lange Warten auf die nächste Gelegenheit zwei Jahre später. Diesmal klappte es. Mein Buch war immer noch nicht so recht aus den Startlöchern, lockdownte sich, tat sich schwer, mühselig liefen Promotion und Verkauf. vielSeitig 2022 war denn auch eine Gelegenheit, mich einen perfiden Verriss meines Romans, der es auf die Shortlist des Luxemburger Buchpreises geschafft hatte,  vergessen zu lassen.

 

Siegen 2022

 

kündigte sich in meinen Recherchen an als eine Großstadt mit knapp über 100.000 Einwohnern, als Universitätsstadt seit 2012 und südlichste Stadt Westfalens. Dazu ist sie die Geburtsstadt von Peter Paul Rubens und ‚nach einer deutschlandweiten Satellitenbild-Auswertung innerstädtischer Grünflächen, die 2016 von der Berliner Morgenpost durchgeführt wurde (ist sie) die grünste Großstadt Deutschlands.‘ glaubte ich dem Wiki Zitat.

Gegoogelt hatte ich auf Maps: Distanz, Lage, dazu entdeckte ich die Bilder von Sehenswürdigkeiten, der historischen Altstadt, Hinweise auf eine vorzügliche Verkehrsinfrastruktur mit Bahn und Bus und Pünktlichkeit. Es wäre ein mir zwar fremder Ort, doch Vertrautes und Alltägliches würde mich erwarten, Restaurants und Hotels, gelegen an mittelbreiten Chausseen.

So hatte ich mir Siegen zurechtgelegt, bevor ich den Fuß vom Gas nach den 90 Kilometern ab Köln nahm. 

Siegen mit seinem filigranen Goldkrönchen auf der Turmspitze, das Obere Schloss und die urige Herberge, der beeindruckende Schlosspark, zudem mit Aussicht auf das Tal ... Siegen, die Unterstadt, Kaufhäuser, Restaurants mit Flair, breite Alleen und Schwärme von Tauben, die mir auflauerten, die beiden sich auf der Oberstadtbrücke gegenüber stehenden Bronzefiguren, Henner und Frieder, Bergmann und Hüttenmann, die an die Tradition des Erzbergbaus in der Region erinnerten ... das alles kannte ich nicht. Ich freute mich es zu entdecken. 

Ich spähte nach der Promotion für das Festival, hatten die Organisatoren die social media fb und Instagram doch schon im Vorfeld eifrig eingesetzt; ich hatte vor Ort folglich Fahnen, Banner und Straßensperren nebst Umleitungen erwartet, ein Meer von breiten Werbetafeln mit dem Profil der Autoren, ihren Texten, Biografien, ihren Porträts, riesengroß und in Farbe ... ich musste feststellen, dass die Literatur in Siegen am gleichen Syndrom leidet wie in Luxemburg: Diskretion an öffentlichen Plätzen. Wort bleibt ungehört versteckt unter der schillernden Werbung für Elektrogeschäfte und Immobilienagenturen. Es ist dem interessierten Zuhörer vorbehalten, dem Freund des Geschriebenen, es auf eigene Faust zu erkunden. Folge dem Plan, den Beschreibungen im gut aufgemachten Katalog und du wirst hören. Und Autoren begegnen, auch Dozenten der Uni Siegen, die sich im Café Schmatz eingefunden hatten, um aus ihren Lieblingsbüchern zu lesen: aus Thomas Manns ‚Zauberberg‘, berührende Passagen aus ‚Der Freund‘ von Sigfrid Nunez und über die Faszination der Mathematik, aufgespürt vom Dozenten für Mathematik in Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Es wurden für mich spannende Stunden. Sprachlich exzellent vorgetragene Sätze und Kapitel, präzise formuliert, Atmungstechnik mitinbegriffen verleihen literarischen Texten zusätzliche Kraft und Schönheit. 

Siegen war auch, das möchte ich betonen, die Lust am Flanieren, die Freude am Streunen entlang von Straßen und Plätzen, entlang dem Lauf der Sieg, Pfaden folgend, Treppen und Gässchen erforschend, ein Spaziergang über den Campus des Unteren Schlosses, schmale Passagen und diskrete Durchgänge aufstöbernd sowie einen kurzen Halt einlegend vor einem Schaufenster mit nobler Herrenkonfektion gegenüber einer Vitrine mit einem Arsenal von Jagdgewehren. Zwischendurch erklang Orgelmusik und der Gesang einer Tauffeier aus der evangelischen Nikolaikirche, in der mich die Abwesenheit von heiligen Bildern an den Wänden überraschte.  

Es waren Erkundungen mit Ausblicken auf die umliegenden Hügel gehüllt in Regen. Es regnete oft und anhaltend, durchdrungen gelegentlich vom Strahl der untergehenden oder aufgehenden Sonne. Abends und morgens finde ich, ist das Spiel der hellen Flecken in urbaner Landschaft besonders attraktiv, setzt Akzente in Fläche und Raum. Ich wollte auch Kirchen und Monumente im Bild festhalten, als Gedankenskizze zu meinem Aufenthalt. Ich sah die Chance, den attraktiven Platz vor dem Rathaus in geeigneter Perspektive zu fotografieren und hatte das Pech, dass ein Mann, weit entfernt, es nicht duldete, dass er und sein Begleiter ins Visier meiner Kamera geraten waren. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte mir eine blutige Nase oder eine aufgeplatzte Lippe geholt. Nun gut. 

 

Ein Rendez Vous stand an in der Kaffeerösterei Pagnia. Allein schon der Ort interessierte mich: Kaffeeassortiments, Teesorten, Plunderstücke, Süßes in Reih und Glied und ein voll besetzter Raum mit Zuhörer*Innen: Die Begegnung mit zwei polnischen Schriftstellerinnen, Martyna Bunda und Karolyna Kuszyk, vorgestellt von Dr. Natasza Stelmaszyk war unter dem Namen KosmoPOLINNEN angekündigt worden. 

Der Roman ‚Das Glück der kalten Jahre‘ (Suhrkamp Verlag), das literarische Debüt von Martyna Bunda war die Gelegenheit, mir eine Region zu vergegenwärtigen und ihre Menschen, die Kaschuben, über die ich als Jugendlicher zum ersten Mal in der Blechtrommel gelesen hatte. Der Roman handelt, so viel sei hier verraten, von ‚Mutter und Töchter‘, ‚...von vier starken Frauen, die in widrigen Zeiten wie Pech und Schwefel zusammenhalten.‘ [i]‚Eine eindrucksvolle Familiensaga, deren Größe aus dem vermeintlich Alltäglichen erwächst, während die Weltgeschichte in Nebensätzen aufscheint‘.[ii]

Ich mochte die vorgelesenen Passagen. Ich sah das Schwein vor mir, wie es auf dem heimatlichen Hof geschlachtet werden sollte und weint. Ich war beeindruckt, wie die Übersetzerin die Worte von Martyna Bunda aus dem Polnischen ins Deutsche übertrug, mich einführte in diesen Roman, den mich mir sofort kaufte, mit Zeichnung und persönlicher Widmung der Autorin. 

 

In den Häusern der Anderen, Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen (Ch.Links Verlag) von Karolyna Kuszyk beschreibt eine Thematik, die mich nach Olga Tokarczuks Erzählungen eine weitere Facette der polnischen Literatur entdecken ließ. 

Karolyna Kuszyks Roman berührt das Schicksal von Millionen Deutschen in Polen, die nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gegen Westen flüchteten. Polnische Bürger aus den Städten wurden von der kommunistischen Regierung in den leeren Wohnungen einquartiert. ‚Was den einen Verlust der Heimat war den anderen Neubeginn im Fremden‘.[iii] Spätere Begegnungen diesseits und jenseits der Wände und der Vorgärten, Kontakte zwischen den Vertriebenen und den vom Staat eingewiesenen Polen förderten Annäherungen, bildeten einen Einstieg in die Perspektive eines grenzenlosen Europa. 

Ich war fasziniert vom Thema, das sich sozusagen am Rand der großen Geschichte abspielt. Ränder erzählen oft mehr über politische Verwerfungen als Chroniken und Statistiken es tun können. Genau hier braucht es Literatur, finde ich, die Eindringlichkeit des Erzählens und die Dichte der Sprache, um in diesem Fall ‚die Herausforderung der polnischen Nachkriegsgesellschaft mit dem deutschen Erbe umzugehen‘, wie Andreas Kossert es beschreibt, fassbarer zu gestalten. Geschichte wird von den einzelnen Menschen geprägt, bekämpft und erduldet, von ihren großen und kleinen Leben.

Die Gruppe der Pétanque Spieler passte vorzüglich in meinen Siegener Aufenthalt. Ich nahm mir eine halbe Stunde Zeit, um den schwungvollen Würfen zuzusehen, den Klick und Klack Lauten zuzuhören der aufeinanderstoßenden Metallkugeln, den Kommentaren und den Ausrufen der Spieler. Hin und wieder war es ein misstrauischer Blick eines älteren Herrn in meine Richtung: „Was tut er da, der Fremde? Ist mit Fotoapparat und Handy bewehrt. Warum ist er hier? Warum sieht er uns zu?“ Doch ich saß brav und still auf der Bank und amüsierte mich über das Spiel, das ich mochte seit meiner Kindheit und hier überraschend wiederentdeckte, wie so manches Neue und Unerwartete in der Stadt, kurz bevor es wieder zu regnen begann. „Schönen Tag noch.“ „Ja, Ihnen auch.“

 

Das Café Flocke wurde die Bühne für die Lesung von Natalka Sniadanko, eine ukrainische Schriftstellerin, aus ihrem Roman ‚Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde‘ (HAYMON verlag). ‚Ein turbulenter Generationenroman‘ und wiederum:  ‚Natalka Sniadanko zeigt, wie sich Menschen annähern und zusammenwachsen – über Generationen und soziale Gräben, über politische Systeme und Grenzen hinweg‘. (Zitat aus dem Vorwort). 

Die angeschnittenen Themen der Lesungen, die ich besuchte, bestätigten mir, dass die Einladung aus meinem Roman l’arc di Marianna zu lesen, sich nicht nur als eine ehrenvolle Aufgabe gestaltete. Mein europäischer Roadtrip, den ich Cosimo und seine Freunde erleben ließ, integrierte sich in die Thematiken von Heimat und Fremde, von der Suche nach einer besseren Existenz und den Enttäuschungen über Verlust und Scheitern. Ich wähnte mich in guter Gesellschaft, als ich meine Lesung im gleichen Café Flocke einen Tag später begann. Unterstützt von der Familie, im Kreis interessierter Zuhörer*Innen. 

Dass, es sei zugleich erwähnt, Übersetzungen von Büchern ein schwieriges Unterfangen sind, ehe ein Arrangement zwischen Verlagen zustande kommt, war mir nicht fremd. Dabei ist der finanzielle Teil meist nicht das größte Problem. Richtig bewusst wurde es mir, als Dr. Stelmaszyk das Thema anhand von Natalka Sniadankos Roman auf den Punkt brachte. Die Umstände, mit denen ich selbst zu kämpfen habe, um dabei zu helfen l’arc di Marianna eine Chance auf dem italienischen Markt zu verschaffen, sind demnach leider keine Ausnahme.

 

Was bliebe 

 

aus meiner Sicht als Schlussfolgerung eines in mancher Hinsicht bereichernden 

Literaturfestivals zu berichten? Die Neugierde, eine Stadt wahrzunehmen, die mich zum schreiben und fotografieren inspirierte? Die sympathischen Autorinnen und Vorleser*Innen?  Die Moderation von Dr. Stelmaszyk sowie der Empfang durch das Kulturbüro Siegen und die überraschende Begegnung mit seiner Leiterin Frau Klotz? All dies waren reizvolle Momente. Gute, neue Bücher und europäische Themen zu entdecken eine hochwillkommene Erfahrung.



[i] Zitat von der Rückseite des Romans Das Glück der kalten Jahre

[ii] idem

[iii] Zitat von der Rückseite des Romans In den Häusern der Anderen, Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen

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